Amtshaftung wegen Polizeikessel

Ablehnung von Geldentschädigung wegen polizeilicher Einkesselung verfassungswidrig. Wesentliche Umstände der polizeilichen Massnahme seien durch die Gerichte nicht erörtert worden: Etwa die Wirkung des staatlichen Zwangs. Dieser sei auf eine Willensbeugung gerichtet und geeignet gewesen, die Betroffene vom zukünftigen Gebrauch des Demonstrationsrechts abzuschrecken.

BVerfG, Beschluss vom 14.02.2017 – 1 BvR 2639/15 – 
Art. 5 Abs. 1 Buchstabe c, Abs. 3 S. 1 EMRK
Art. 1 Abs. 1, 2 Abs. 1, Abs. 2 S. 2, 8 Abs. 1, 34, 104 Abs. 2 S. 2 GG
§ 839 Abs. 1 BGB

Leitsätze (tm.)

1. Wird bei einer freiheitsentziehenden Massnahme nicht unverzüglich eine richterliche Entscheidung herbeigeführt, verletzt der Freiheitsentzug das Grundrecht auf Handlungsfreiheit und damit das allgemeine Persönlichkeitsrecht der davon betroffenen Person.
2. Die Notwendigkeit der richterlichen Anordnung ist nicht von einer Klage, Beschwerde oder einem Antrag abhängig. Ein Verzicht darauf ist nicht möglich. Sie ist von Amts wegen einzuleiten.
3. Der Umstand, dass die betroffene Person sich im Gewahrsam bloss passiv verhält, kann ihr bei der späteren Geltendmachung eines Amtshaftungsanspruchs nicht entgegengehalten werden.

Tenor

1. Das Urteil des Oberlandesgerichts Celle vom 24. September 2015 – 16 U 18/15 – und das Urteil des Landgerichts Lüneburg vom 10. Dezember 2014 – 2 O 7/14 – verletzen die Beschwerdeführerin in ihren Grundrechten aus Artikel 2 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 1 Absatz 1 und aus Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 des Grundgesetzes. Die Urteile werden aufgehoben. Die Sache wird an das Landgericht Lüneburg zurückverwiesen.

2. Das Land Niedersachsen hat der Beschwerdeführerin ihre notwendigen Auslagen zu erstatten.

3. Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit wird auf 25.000,- € (in Worten: fünfundzwanzigtausend Euro) festgesetzt.

Gründe

I.
[1] Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen die Abweisung eines Geldentschädigungsanspruchs wegen einer rechtswidrigen Freiheitsentziehung durch Polizeikräfte im Zusammenhang mit einer Grossdemonstration.

[2] 1. Die Beschwerdeführerin nahm vom 26. auf den 27. November 2011 an einer Blockade der Bahnstrecke zwischen Lüneburg und Dannenberg (Ost) im Bereich Harlingen teil, welche anlässlich des Castortransports nach Gorleben stattfand. Für den betroffenen Schienenabschnitt galt mit Blick auf den Castortransport ein Versammlungsverbot auf und neben der Bahnstrecke in einem Abstand von 50 Metern. Während des gesamten Transports kam es auf der Bahnstrecke zu Blockadeaktionen.

[3] Die Polizei löste die Sitzblockade im Bereich Harlingen durch fünf Lautsprecherdurchsagen zwischen 2:40 Uhr und 2:56 Uhr auf und forderte die Versammlungsteilnehmer auf, sich zu entfernen. Dieser Aufforderung kam rund die Hälfte der circa 3.000 Versammlungsteilnehmer nach. Insgesamt 1.346 Personen – unter ihnen die Beschwerdeführerin – verbrachte die Polizei ab etwa 3:15 Uhr in einen nahegelegenen Feldgewahrsam. Ab etwa 3:40 Uhr befand sich die Beschwerdeführerin im Gewahrsam. Ab 4:50 Uhr gab die Polizei an die im Feldgewahrsam festgehaltenen Personen Decken, Sitzkissen und Rettungsfolien aus und stellte warme und kalte Verpflegung sowie Getränke zur Verfügung. Sanitäre Einrichtungen waren in Form von circa 30 mobilen Toilettenkabinen vorhanden. Die Aussentemperaturen auf dem Feld lagen in der betreffenden Nacht bei circa 5 – 10 Grad Celsius. Im Laufe des Vormittags begann es leicht zu regnen. Ab etwa 7:30 Uhr war die Sitzblockade des Gleisbetts geräumt. Gegen 13:45 Uhr konnte die Beschwerdeführerin den Kessel verlassen.

[4] Die angegriffenen Entscheidungen stellen fest, dass die Beschwerdeführerin ausweislich eines Vermerks auf dem Antrag auf richterliche Überprüfung entgegen ihrem Wunsch nicht von der Polizei nach Lüchow zur richterlichen Vernehmung gebracht worden sei.

[5] 2. Mit – hier nicht angegriffenem – Beschluss vom 13. November 2013 stellte das Landgericht unter Abänderung eines im Verfahren nach § 19 Abs. 2 Nds.SOG ergangenen Beschlusses des Amtsgerichts vom 8. April 2013 fest, dass die Freiheitsentziehung insgesamt rechtswidrig gewesen sei. Bezüglich des Antrags der Beschwerdeführerin, die Rechtswidrigkeit der Ausgestaltung der Gewahrsamsbedingungen festzustellen, wies das Landgericht die sofortige Beschwerde zurück. Ob ein Platzverweis vor der Ingewahrsamnahme erfolgt sei, so dass diese auf Grundlage des § 18 Abs. 1 Nr. 3 Nds.SOG und im Einklang mit Art. 5 Abs. 1 Buchstabe b EMRK erfolgt sei, oder ob die Ingewahrsamnahme in § 18 Abs. 1 Nr. 2 b) Nds.SOG eine Rechtsgrundlage finde, so das Landgericht, bedürfe keiner abschliessenden Klärung, da jedenfalls der Pflicht zur unverzüglichen Herbeiführung einer richterlichen Entscheidung gemäss § 19 Abs. 1 Nds.SOG nicht entsprochen worden sei.

[6] 3. Mit angefochtenem Urteil wies das Landgericht die Klage der Beschwerdeführerin auf Zahlung eines Schmerzensgeldes in Höhe von 1.000 € nebst vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten als unbegründet ab. Ein Schmerzensgeldanspruch bestehe nur dann, wenn die Ingewahrsamnahme eine hinreichende Schwere aufweise und eine anderweitige Genugtuungsmöglichkeit nicht bestehe. Diese Voraussetzungen seien hier nicht erfüllt. Es fehle bereits an einer hinreichenden Schwere der Persönlichkeitsverletzung, denn die Rechtswidrigkeit der Ingewahrsamnahme beruhe allein darauf, dass eine Vorführung zur richterlichen Anhörung nicht unverzüglich erfolgt sei. Damit unterscheide sich der Fall signifikant von der Fallgestaltung, in der das Bundesverfassungsgericht im Beschluss vom 11. November 2009 (BVerfGK 16, 389 ff.) eine Geldentschädigung als erforderlich angesehen habe. Die Betroffenen jenes Verfahrens hätten sich persönlich nicht rechtswidrig verhalten. Zudem habe die Beschwerdeführerin bereits Genugtuung dadurch erfahren, dass das Landgericht die Rechtswidrigkeit der Ingewahrsamnahme festgestellt habe. Diese Feststellung sei auch nicht ohne Wert, da dem Gericht dienstlich bekannt sei, dass die Polizeieinsatzleitung in der Vergangenheit aus Entscheidungen in derartigen Freiheitsentziehungsverfahren Konsequenzen für die Einsatzplanung zur Absicherung der nächsten Castortransporte gezogen habe. Dem Gericht erscheine es auch fraglich, ob die Beschwerdeführerin tatsächlich den Wunsch gehabt habe, nach Lüchow verbracht zu werden, wo richterliche Anhörungen von 6:40 Uhr bis 12:50 Uhr stattgefunden hätten. Denkbar sei, dass die Beschwerdeführerin sich den im Kessel befindlichen Gruppenmitgliedern habe anschliessen und dort verbleiben wollen. Auch die Gewahrsamsbedingungen seien gänzlich andere gewesen als im vom Bundesverfassungsgericht entschiedenen Fall. Dass aus ihnen keine besondere Schwere der Rechtswidrigkeit der Freiheitsentziehung folge, zeigten bereits die Ausführungen des Landgerichts im Beschluss vom 13. November 2013.

[7] 4. Mit angegriffenem Urteil vom 24. September 2015 wies das Oberlandesgericht die Berufung der Beschwerdeführerin gegen das landgerichtliche Urteil vom 10. Dezember 2014 zurück. Die Beschwerdeführerin habe bereits dadurch hinreichend Genugtuung für die Verletzung ihres Persönlichkeitsrechts erfahren, dass die Rechtswidrigkeit der Freiheitsentziehung durch das Landgericht festgestellt worden sei. Konkrete, sie selbst betreffende Beeinträchtigungen von hinreichender Schwere, die über die Beeinträchtigung ihrer Freiheit hinausgingen, habe die Beschwerdeführerin weder substantiiert dargelegt noch ausreichend unter Beweis gestellt. Dies sei für die Darlegung hinreichend schwerer Beeinträchtigungen angesichts der festgestellten Toiletten, Decken und Folien sowie von Essen und Getränken im Kessel sowie der rechtskräftigen Feststellungen des Landgerichts zu den Bedingungen des Gewahrsams ungenügend. Anders als in der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 11. November 2009 (BVerfGK 16, 389 ff.) sei die Ingewahrsamnahme vorliegend aufgrund eines rechtswidrigen Vorverhaltens der Beschwerdeführerin zu vertreten gewesen. Dass sich zukünftige potentielle Demonstrationsteilnehmer durch die Ingewahrsamnahme von der Inanspruchnahme ihrer Grundrechte abschrecken lassen würden, sei angesichts der Tatsache, dass die Unannehmlichkeiten im Fall einer fortgesetzten Sitzblockade auf den Gleisen ähnliche gewesen wären, nicht ersichtlich.

[8] 5. Mit ihrer Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin eine Verletzung ihrer Grundrechte aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG in Verbindung mit Art. 5 Abs. 1 EMRK sowie ihres allgemeinen Persönlichkeitsrechts durch die fachgerichtlichen Entscheidungen zum Amtshaftungsanspruch.

[9] 6. Dem Niedersächsischen Justizministerium und der Präsidentin des Bundesgerichtshofs ist Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben worden. Die Akten des Ausgangsverfahrens haben dem Bundesverfassungsgericht vorgelegen.

II.
[10] Die Verfassungsbeschwerde wird gemäss § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG zur Entscheidung angenommen, weil dies zur Durchsetzung der Grundrechte der Beschwerdeführerin angezeigt ist. Die Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung liegen vor (§ 93c Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG).

[11] 1. Das Bundesverfassungsgericht hat die massgeblichen Fragen bereits entschieden. Dies gilt insbesondere für die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Entscheidung über einen Geldentschädigungsanspruch wegen der Verletzung immaterieller Rechtsgüter, namentlich des allgemeinen Persönlichkeitsrechts oder der Menschenwürde (vgl. BVerfGE 34, 269).

[12] 2. Die Verfassungsbeschwerde ist auch zulässig und im Sinne des § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG offensichtlich begründet.

[13] a) Die Rüge der Beschwerdeführerin, die Gerichte hätten zu Unrecht einen Entschädigungsanspruch in Geld wegen der rechtswidrigen Ingewahrsamnahme verneint, betrifft in erster Linie die Auslegung und Anwendung der als Anspruchsgrundlage in Betracht kommenden zivilrechtlichen Vorschriften, hier des § 839 Abs. 1 BGB in Verbindung mit Art. 34 GG. Dies obliegt primär den Fachgerichten, deren Entscheidungen insoweit vom Bundesverfassungsgericht nur darauf überprüft werden, ob ihnen eine grundsätzlich unrichtige Anschauung der betroffenen Grundrechte zugrunde liegt. Das ist der Fall, wenn die Normauslegung die Tragweite der Grundrechte nicht hinreichend berücksichtigt oder im Ergebnis zu einer unverhältnismässigen Beschränkung der grundrechtlichen Freiheit führt (vgl. BVerfGE 18, 85; 85, 248; 134, 242).

[14] b) Nach diesem Massstab können die angegriffenen Entscheidungen keinen Bestand haben, denn die Erwägungen, aufgrund derer das Landgericht und das Oberlandesgericht einen Anspruch der Beschwerdeführerin auf Geldentschädigung für den erlittenen rechtswidrigen Freiheitsentzug verneint haben, werden der Bedeutung der Grundrechte aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 und Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG nicht gerecht.

[15] aa) Das Bundesverfassungsgericht hat bereits entschieden, dass der Schutzauftrag des allgemeinen Persönlichkeitsrechts durch den Anspruch auf Ausgleich des immateriellen Schadens verwirklicht wird, wobei die Gerichte die Fundierung in der Menschenwürde zu beachten haben (vgl. BVerfGK 3, 49). Dies gilt nicht weniger, wenn auch das Grundrecht auf Freiheit der Person betroffen ist, weil es bereits an einer Rechtsgrundlage für die freiheitsentziehende Massnahme als solcher fehlte oder eine richterliche Entscheidung entgegen Art. 104 Abs. 2 Satz 2 GG nicht unverzüglich herbeigeführt wurde. Zwar muss der hiernach gebotene Ausgleich, wie die angegriffenen Entscheidungen im Ausgangspunkt zutreffend festgestellt haben, nicht zwingend in der Zubilligung eines Zahlungsanspruchs bestehen (vgl. BVerfGK 3, 49; 7, 120). Daher begegnet es grundsätzlich keinen verfassungsrechtlichen Bedenken, dass eine Geldentschädigung wegen der Verletzung immaterieller Persönlichkeitsbestandteile nach der zivilgerichtlichen Rechtsprechung (vgl. BGHZ 39, 124; 161, 33) nur unter der Voraussetzung einer hinreichenden Schwere und des Fehlens einer anderweitigen Genugtuungsmöglichkeit beansprucht werden kann (vgl. BVerfGE 34, 269 ; BVerfGK 16, 389 ). Dies begegnet auch im Lichte der bisherigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte keinen insoweit durchgreifenden Bedenken (vgl. EGMR, Urteil der Grossen Kammer vom 25. März 1999 – 31195/96 -, NJW 2000, S. 2883 m.w.N.).

[16] bb) Diese Anforderungen an die Verwirklichung grundrechtlichen Schutzes haben die angefochtenen Entscheidungen in verfassungsrechtlich nicht mehr tragfähiger Weise verkannt.

[17] Zwar haben Landgericht und Oberlandesgericht ihre Auffassung, dass die von der Beschwerdeführerin erlittene Rechtseinbusse durch die gerichtlich festgestellte Rechtswidrigkeit des Gewahrsams hinreichend ausgeglichen sei, insbesondere auf das Verhalten der Beschwerdeführerin vor und während des Gewahrsams, ihre Möglichkeit einer richterlichen Anhörung sowie die Ausgestaltung der Gewahrsamsbedingungen und damit eine Zusammenschau mehrerer Umstände gestützt. Zudem stützt die Entscheidung des Landgerichts sich darauf, dass die Einsatzleitung der Polizei aus der alleinigen Feststellung der Rechtswidrigkeit bereits Konsequenzen für die Einsatzplanung zur Absicherung zukünftiger Castortransporte gezogen habe. Daran bestehen jedoch erhebliche Zweifel, was gerade das vorliegende Verfahren zeigt (vgl. hierzu schon BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 29. Juni 2016 – 1 BvR 1717/15 -, juris, Rn. 16). Auch die Ausführungen zum Verhalten der Beschwerdeführerin, der Möglichkeit einer richterlichen Anhörung und der Durchführung des Gewahrsams halten einer verfassungsrechtlichen Prüfung nicht stand.

[18] (1) Die rechtliche Bewertung des Verhaltens der Beschwerdeführerin vor und während der Ingewahrsamnahme durch das Landgericht und das Oberlandesgericht genügt nicht den verfassungsrechtlichen Anforderungen.

[19] Sofern ausgeführt wird, dass die Ingewahrsamnahme aufgrund des rechtswidrigen Vorverhaltens der Beschwerdeführerin zu vertreten gewesen sei beziehungsweise die Rechtswidrigkeit der Gewahrsamnahme alleine auf der nicht unverzüglichen Herbeiführung einer richterlichen Entscheidung beruhe, bleibt unberücksichtigt, dass das Landgericht im vorangegangen Feststellungsverfahren verschiedene Zweifel an der Rechtmässigkeit der Massnahme geäussert, eine abschliessende Aufklärung aber letztlich sowohl hinsichtlich etwaig erteilter Platzverweise als auch hinsichtlich der für die Einkesselung in Betracht kommenden Ermächtigungsgrundlage unterlassen hat. Da diese Fragen auch in den angegriffenen Entscheidungen nicht weiter erörtert wurden, erweisen sich die diesbezüglichen Erwägungen des Landgerichts und des Oberlandesgerichts nicht als tragfähig (vgl. BVerfGK 16, 389 ). Ob dem – in den angegriffenen Entscheidungen ebenfalls nicht weiter aufgeklärten – Vorverhalten der Beschwerdeführerin auch bei materieller Rechtswidrigkeit der Ingewahrsamnahme eine das Entschädigungsbedürfnis der Beschwerdeführerin mindernde Bedeutung zukommen könnte, wird in den angegriffenen Entscheidungen ebenfalls nicht erörtert.

[20] Soweit das Landgericht in Zweifel zieht, ob die Beschwerdeführerin tatsächlich den Wunsch gehabt habe, dem Richter vorgeführt zu werden, vermögen die Ausführungen die Entscheidung gleichfalls nicht zu tragen. In Betracht kämen insoweit allerdings eine Minderung oder ein Ausschluss des Entschädigungsanspruchs gemäss § 839 Abs. 3 BGB. Hierauf ist die Entscheidung indes nicht gestützt und hierfür finden sich auch keine hinreichenden Feststellungen in den angegriffenen Entscheidungen. Das Oberlandesgericht legt vielmehr ausdrücklich dar, dass die Voraussetzungen eines Amtshaftungsanspruchs vorlägen und nimmt auf die Feststellung des Landgerichts Bezug, nach denen auf dem Antragsformular auf richterliche Überprüfung ein Verweis angebracht worden sei, dass die Beschwerdeführerin entgegen ihrem Wunsch nicht von der Polizei nach Lüchow gebracht worden sei. Die angegriffenen Entscheidungen ziehen zwar in Zweifel, ob diesem Antrag tatsächlich ein entsprechender Wille der Beschwerdeführerin entsprochen habe, treffen aber keine hinreichenden Feststellungen, aus denen sich ergibt, dass – auch unter Berücksichtigung der insoweit geltenden Anforderungen an die Darlegungs- und Beweislast – die Beschwerdeführerin ihrer Schadensminderungspflicht tatsächlich nicht genügt hätte.

[21] Die Frage, wieweit die Beschwerdeführerin danach verlangt hat, einem Richter vorgeführt zu werden, kann von Bedeutung sein in Blick auf ihre Schadensminderungspflicht oder auch die Anforderungen der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde. Hinsichtlich der materiellen Rechtswidrigkeit der Massnahme kommt es auf den Wunsch der Beschwerdeführerin, einem Richter vorgeführt zu werden, indes von vorneherein nicht an. Die Notwendigkeit der richterlichen Anordnung nach Art. 104 Abs. 2 GG ist nicht von einer Klage, Beschwerde oder einem Antrag des Betroffenen abhängig. Ein Verzicht der Betroffenen auf die richterliche Anordnung ist nicht möglich (vgl. Dürig, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 104 Rn. 27 ; Rüpig, in: Bonner Kommentar, Bd. 13, Art. 104 Rn. 42). Ferner verbürgt Art. 5 Abs. 3 Satz 1 EMRK im Fall des Art. 5 Abs. 1 Buchstabe c EMRK eine erste richterliche Vorführung, die von Amts wegen einzuleiten ist und nicht von einem Antrag des Betroffenen abhängen darf (vgl. Dörr, in: Dörr/Grothe/Marauhn, EMRK/GG Konkordanzkommentar, Bd. 1, 2. Aufl. 2013, Kap. 13, Rn. 46 m.w.N.). Ist der Umstand, dass die Betroffene sich nicht freiwillig zur richterlichen Anhörung meldet und hat vorführen lassen, sondern sich bloss passiv verhält, für die Frage der unverzüglichen Herbeiführung einer richterlichen Entscheidung nach Art. 104 Abs. 2 GG aber – anders als ein renitentes Verhalten der Betroffenen (vgl. BVerfGE 105, 239) – ohne Bedeutung, kann ihr ein solches Verhalten auch nicht im Rahmen des Amtshaftungsanspruchs entgegengehalten werden.

[22] (2) Zu beanstanden ist weiter, dass weder das Landgericht noch das Oberlandesgericht in der etwa zehnstündigen Festsetzung der Beschwerdeführerin die hiermit verbundene abschreckende Wirkung für zukünftige potentielle Demonstrationsteilnehmer berücksichtigt haben. Bei Fortführung der Sitzblockade seien ähnliche Unannehmlichkeiten zu erwarten gewesen. Die Entscheidungen lassen insoweit die Wirkung des staatlichen Zwangs unbeachtet, der mit der Einkesselung der Versammlungsteilnehmer einhergeht und der darauf gerichtet ist, deren freie Willensbetätigung ganz wesentlich einzuschränken. Gerade dieser Willensbeugung und dem Ausgeliefertsein der staatlichen Hoheitsgewalt kann eine abschreckende Wirkung für den künftigen Gebrauch grundrechtlich garantierter Freiheiten – namentlich der durch Art. 8 Abs. 1 GG geschützten Teilnahme an Demonstrationen – zukommen. In der Folge sind die Fachgerichte gehalten, entsprechende Erwägungen bei der Frage nach der Ausgleichs- und Genugtuungsfunktion des Schmerzensgeldes zu berücksichtigen (vgl. BVerfGK 16, 389; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 29. Juni 2016 – 1 BvR 1717/15 -, juris, Rn. 17).

[23] (3) Schliesslich wird die Verletzung des Grundrechts aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG nicht in die gebotene Gesamtschau aller Umstände des Einzelfalles dergestalt einbezogen, dass bereits in der Freiheitsentziehung selbst und damit unabhängig von den Gewahrsamsbedingungen eine erhebliche Grundrechtsverletzung begründet liegt. Insbesondere verkennen die angegriffenen Entscheidungen die auch materiellrechtliche Bedeutung der Verletzung des durch Art. 104 Abs. 2 Satz 2 GG gewährleisteten Richtervorbehalts (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 29. Juni 2016 – 1 BvR 1717/15 -, juris, Rn. 16 m.w.N.). Mit ihrem Verweis auf die Bestätigung der Rechtmässigkeit der Gewahrsamsbedingungen im vorangegangenen Feststellungsverfahren durch das Landgericht verkennen die angegriffenen Entscheidungen zudem, dass die Intensität der Beeinträchtigung der betroffenen Grundrechte auch durch Umstände erhöht werden kann, die bei Rechtmässigkeit der Ingewahrsamnahme gegebenenfalls hinzunehmen wären.

[24] 3. Die angefochtenen Entscheidungen beruhen auf den Grundrechtsverstössen. Sie sind daher aufzuheben. Die Sache ist an das Landgericht zur erneuten Entscheidung zurückzuverweisen (§ 93c Abs. 2 i.V.m. § 95 Abs. 2 BVerfGG). Hierbei kann das Gericht gegebenenfalls auch die Frage aufgreifen, ob ein Anspruch unter Umständen gemäss § 839 Abs. 3 BGB ausscheidet.

[25] 4. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung folgt aus § 34a Abs. 2 BVerfGG. Die Festsetzung des Gegenstandswerts beruht auf § 37 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. § 14 Abs. 1 RVG (vgl. BVerfGE 79, 365 ).

Kirchhof Masing Paulus

Quelle: https://www.bundesverfassungsgericht.de/ (Bundesverfassungsgericht, 76131 Karlsruhe)

Leitsätze, Format und Rechtschreibung: https://www.debier.de (debier-datenbank, RA Torsten Mahncke, Berlin)