Kollektivbeleidigung

“ACAB” auf der Hose eines Fussball-Fans betrifft nicht jeden im Stadion eingesetzten Polizeibeamten persönlich. Das Bundesverfassungsgericht hob eine Entscheidung des OLG München auf, das die Beinkleider als beleidigend einstufte. Eine auf ein Kollektiv bezogene Äusserung betrifft nicht ohne Weiteres deren Mitglieder.

BVerfG,  Beschluss vom 17.05.2016  – 1 BvR 257/14 –
Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG
§§ 185, 194 StGB

Leitsätze (tm.)

1. Ein negatives Werturteil, das weder bestimmte Personen benennt noch erkennbar auf bestimmte Personen bezogen ist, sondern ohne individuelle Aufschlüsselung ein Kollektiv erfasst, kann unter bestimmten Umständen auch in das allgemeine Persönlichkeitsrecht der Mitglieder des Kollektivs eingreifen.
2. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht der Mitglieder eines Kollektives kann allerdings durch eine Äusserung nicht betroffen sein, solange sie sich nicht auf eine hinreichend überschaubare und abgegrenzte Personengruppe bezieht.
3. Bezieht sich eine Äusserung auf eine Teilgruppe eines nach einer allgemeinen Gattung bezeichneten Personenkreises, reicht dies allein nicht aus, um sie damit als eine auf einen hinreichend überschaubare Personengruppe bezogen zu betrachten.

Tenor

Der Beschluss des Oberlandesgerichts München vom 18. Dezember 2013 – 4 OLG 13 Ss 571/13 – verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 5 Absatz 1 Satz 1 des Grundgesetzes.
Die Entscheidung wird aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Entscheidung an das Oberlandesgericht München zurückverwiesen.
Der Freistaat Bayern hat dem Beschwerdeführer die ihm im Verfassungsbeschwerdeverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu erstatten.
Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit im Verfassungsbeschwerdeverfahren wird auf 25.000,- € (in Worten: fünfundzwanzigtausend Euro) festgesetzt.

Gründe

I.
[1] Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen eine strafgerichtliche Verurteilung wegen Beleidigung gemäss § 185 StGB.

[2] 1. Beim Besuch eines Fussballspiels im Oktober 2012 trug der Beschwerdeführer eine schwarze Hose, die im Gesässbereich grossflächig mit dem Aufdruck ACAB bedruckt war. Nach dem Spiel verliess er in einer Gruppe weiterer Fussball-Fans das Stadion auf einem Weg, der vor einigen dort eingesetzten Bereitschaftspolizisten vorbeiführte. Dabei wurden die Bereitschaftspolizisten auf den gut sicht- und lesbaren Aufdruck ACAB aufmerksam. Einer der Bereitschaftspolizisten erstattete Anzeige gegen den Beschwerdeführer.

[3] 2. Das Amtsgericht verurteilte den Beschwerdeführer wegen Beleidigung gemäss §§ 185, 194 StGB zu einer Geldstrafe von 100 Tagessätzen zu je 30 €. Es sei allgemein bekannt, dass die Buchstaben „ACAB“ eine Abkürzung für den Satz „all cops are bastards“ darstellten. Die Bezeichnung eines Polizeibeamten als „Bastard“ sei zweifelsfrei ehrverletzend. Es handle sich auch nicht um eine straflose Kollektivbeleidigung, da eine Individualisierung auf einen abgegrenzten Personenkreis stattgefunden habe. Die Äusserung habe sich gegen sämtliche Polizisten gerichtet, die im Rahmen des Fussballspiels im Einsatz waren. Der Beschwerdeführer habe um die hohe Polizeipräsenz während des Fussballspiels gewusst und dabei billigend in Kauf genommen, dass Polizeibeamte während des Spiels den Aufdruck wahrnehmen und sich in ihrer Ehre verletzt fühlen.

[4] 3. Das Landgericht wies die Berufungen des Beschwerdeführers und der Staatsanwaltschaft unter Bezugnahme auf die Entscheidungsgründe der amtsgerichtlichen Entscheidung als unbegründet zurück. Eine Rechtfertigung komme weder nach § 193 StGB noch gemäss Art. 5 GG in Betracht. Der Angeklagte sei sich bewusst gewesen, dass er sich im Stadion einer anonymen Vielzahl von Polizeibeamten gegenübersehen würde und auf den Zu- und Abwegen einzelnen Polizeibeamten oder gruppenweise auftretenden Polizeibeamten begegnen würde. Er habe mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit damit rechnen müssen, dass einzelne Polizeibeamte die auf Gesässhöhe positionierte Aufschrift sehen und sich daran stören würden. Es handle sich um eine Äusserung unter einer Kollektivbezeichnung, die jedoch unter anderem auch konkret gegenüber durch persönliches Aufeinandertreffen individualisierten Personen kommuniziert würde. Bei der Abwägung, inwieweit hier das Recht der freien Meinungsäusserung des Angeklagten durch eine eventuelle Strafbarkeit beeinträchtigt werden könne, sei kein ausreichender Anlass für gerade diese Meinungsäusserung zu erkennen. Dem Beschwerdeführer sei es allein um die Diffamierung und persönliche Herabsetzung der angegriffenen Personen gegangen.

[5] 4. Die gegen das landgerichtliche Urteil eingelegte Revision des Beschwerdeführers verwarf das Oberlandesgericht als offensichtlich unbegründet.

[6] 5. Mit seiner Verfassungsbeschwerde wendet sich der Beschwerdeführer gegen den Beschluss des Oberlandegerichts und rügt die Verletzung seines Grundrechts auf Meinungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG, auf willkürfreie Behandlung durch Polizei und Justiz gemäss Art. 3 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG, und des Bestimmtheitsgebots (Art. 103 Abs. 2 GG).

[7] 6. Das Bayerische Staatsministerium der Justiz äusserte sich dahingehend, dass die Verfassungsbeschwerde unbegründet sei. Die Akten des Ausgangsverfahrens lagen dem Bundesverfassungsgericht vor.

II.
[8] Die Verfassungsbeschwerde wird gemäss § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG zur Entscheidung angenommen, weil dies zur Durchsetzung der Grundrechte des Beschwerdeführers angezeigt ist. Die Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung liegen vor (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG).

[9] 1. Das Bundesverfassungsgericht hat die massgeblichen Fragen bereits entschieden. Dies gilt namentlich für den Einfluss des Grundrechts der Meinungsfreiheit bei Auslegung und Anwendung von dieses Grundrecht beschränkenden Strafvorschriften (vgl. BVerfGE 43, 130 <136 f.>; 82, 43 <50 ff.>; 93, 266 <292 ff.>).

[10] 2. Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig und im Sinne des § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG offensichtlich begründet. Die angegriffene Entscheidung verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG.

[11] a) Die strafrechtliche Verurteilung des Beschwerdeführers greift in die Freiheit der Meinungsäusserung ein. Das Tragen der Hose mit der Aufschrift „ACAB“ fällt in den Schutzbereich des Grundrechts. Meinungen sind im Unterschied zu Tatsachenbehauptungen durch die subjektive Einstellung des sich Äussernden zum Gegenstand der Äusserung gekennzeichnet. Sie enthalten sein Urteil über Sachverhalte, Ideen oder Personen (BVerfGE 93, 266 <289>). Sie geniessen den Schutz des Grundrechts, ohne dass es darauf ankommt, ob die Äusserung begründet oder grundlos, emotional oder rational ist, als wertvoll oder wertlos, gefährlich oder harmlos eingeschätzt wird (BVerfGE 90, 241 <247>; 124, 300 <320>).

[12] Die Gerichte sind davon ausgegangen, dass der Aufdruck „ACAB“ für die englische Parole „all cops are bastards“ steht. Da diese Auflösung der Buchstabenfolge sowohl bei der Polizei als auch bei den Äussernden allgemein bekannt ist, begegnet es keinen verfassungsrechtlichen Bedenken, dass die Verwendung der Buchstabenfolge der Äusserung der Aussage gleichgestellt wird. Die Gerichte haben sich hinreichend mit möglichen weiteren Deutungsmöglichkeiten auseinandergesetzt und sind mit schlüssigen Erwägungen zu dem naheliegenden Ergebnis der genannten Auslegung gelangt. Es handelt sich um eine Meinungsäusserung im Sinne des Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG. Die Parole ist nicht von vornherein offensichtlich inhaltlos, sondern bringt eine allgemeine Ablehnung der Polizei und ein Abgrenzungsbedürfnis gegenüber der staatlichen Ordnungsmacht zum Ausdruck (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 26. Februar 2015 – 1 BvR 1036/14 -, NJW 2015, S. 2022).

[13] b) Das Grundrecht der Meinungsfreiheit ist nicht vorbehaltlos gewährleistet, sondern unterliegt nach Art. 5 Abs. 2 GG den Schranken, die sich aus den allgemeinen Gesetzen sowie den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und in dem Recht der persönlichen Ehre ergeben. § 185 StGB ist als allgemeines Gesetz geeignet, der freien Meinungsäusserung Schranken zu setzen (vgl. BVerfGE 93, 266 <290 f.>).

[14] c) Der in der Verurteilung liegende Eingriff in die Meinungsfreiheit ist nicht gerechtfertigt, weil die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Anwendung und Auslegung des § 185 StGB als Schranke der freien Meinungsäusserung nicht gewahrt sind.

[15] Die Auslegung und Anwendung der Strafgesetze ist grundsätzlich Aufgabe der Fachgerichte. Gesetze, die in die Meinungsfreiheit eingreifen, müssen jedoch so interpretiert werden, dass der prinzipielle Gehalt dieses Rechts in jedem Fall gewahrt bleibt. Es findet eine Wechselwirkung in dem Sinne statt, dass die Schranken zwar dem Wortlaut nach dem Grundrecht Grenzen setzen, ihrerseits aber aus der Erkenntnis der grundlegenden Bedeutung dieses Grundrechts im freiheitlich demokratischen Staat ausgelegt und so in ihrer das Grundrecht begrenzenden Wirkung selbst wieder eingeschränkt werden müssen (vgl. BVerfGE 7, 198 <208 f.>; 93, 266 <292>; 124, 300 <342>; stRspr).

[16] Die Meinungsfreiheit findet in den allgemeinen Gesetzen und der durch diese geschützten Rechte Dritter ihre Grenze. Dies ist der Fall, wenn eine Meinungsäusserung die Betroffenen ungerechtfertigt in ihrem allgemeinen Persönlichkeitsrecht und der durch sie geschützten persönlichen Ehre verletzt. Dabei kann eine herabsetzende Äusserung, die weder bestimmte Personen benennt noch erkennbar auf bestimmte Personen bezogen ist, sondern ohne individuelle Aufschlüsselung ein Kollektiv erfasst, unter bestimmten Umständen auch ein Angriff auf die persönliche Ehre der Mitglieder des Kollektivs sein (vgl. BVerfGE 93, 266 <299>). Je grösser das Kollektiv ist, auf das sich die herabsetzende Äusserung bezieht, desto schwächer kann auch die persönliche Betroffenheit des einzelnen Mitglieds werden, weil es bei den Vorwürfen an grosse Kollektive meist nicht um das individuelle Fehlverhalten oder individuelle Merkmale der Mitglieder, sondern um den aus der Sicht des Sprechers bestehenden Unwert des Kollektivs und seiner sozialen Funktion sowie der damit verbundenen Verhaltensanforderungen an die Mitglieder geht. Auf der imaginären Skala, deren eines Ende die individuelle Kränkung einer namentlich bezeichneten oder erkennbaren Einzelperson bildet, steht am anderen Ende die abwertende Äusserung über menschliche Eigenschaften schlechthin oder die Kritik an sozialen Einrichtungen oder Phänomenen, die nicht mehr geeignet sind, auf die persönliche Ehre des Individuums durchzuschlagen (BVerfGE 93, 266 <301 f.>). Es ist verfassungsrechtlich nicht zulässig, eine auf Angehörige einer Gruppe im Allgemeinen bezogene Äusserung allein deswegen als auf eine hinreichend überschaubare Personengruppe bezogen zu behandeln, weil eine solche Gruppe eine Teilgruppe des nach der allgemeineren Gattung bezeichneten Personenkreises bildet (vgl. BVerfGE 93, 266 <302 f.>).

[17] Diese verfassungsrechtlichen Massstäbe hat das Oberlandesgericht durch die Annahme einer hinreichenden Individualisierung des negativen Werturteils verkannt. Es weist nicht in verfassungsrechtlicher tragfähiger Weise auf, dass sich die hier in Rede stehende Äusserung auf eine hinreichend überschaubare und abgegrenzte Personengruppe bezieht. Hierfür reicht es nicht, dass die im Stadion eingesetzten Polizeikräfte eine Teilgruppe aller Polizistinnen und Polizisten sind. Vielmehr bedarf es einer personalisierten Zuordnung. Worin diese liegen soll, ergibt sich aus den Urteilsgründen nicht. Insbesondere genügt es nicht, dass der Beschwerdeführer, dem bewusst war, dass Einsatzkräfte der Polizei anwesend sein würden, hinter einer von der Polizei überwachten Gruppe das Stadion verliess. Es fehlen Feststellungen dazu, dass sich der Beschwerdeführer bewusst in die Nähe der Einsatzkräfte der Polizei begeben hat, um diese mit seiner Parole zu konfrontieren. Der blosse Aufenthalt im Stadion im Bewusstsein, dass die Polizei präsent ist, genügt den verfassungsrechtlichen Vorgaben an eine erkennbare Konkretisierung der Äusserung auf bestimmte Personen nicht. Es ist hieraus nicht ersichtlich, dass die Äusserung sich individualisiert gegen bestimmte Beamte richtet.

[18] d) Die angegriffene Entscheidung beruht auf den aufgezeigten verfassungsrechtlichen Fehlern. Es ist nicht auszuschliessen, dass das Oberlandesgericht bei erneuter Befassung zu einer anderen Entscheidung in der Sache kommen wird.

[19] 3. Soweit der Beschwerdeführer die Verletzung von Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 und Art. 103 Abs. 2 GG rügt, ist die Verfassungsbeschwerde unzulässig, da es an einer den Anforderungen der § 23 Abs. 1, § 92 BVerfGG genügenden Auseinandersetzung mit den verfassungsrechtlichen Massstäben fehlt.

[20] 4. Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers folgt aus § 34a Abs. 2 BVerfGG. Die Festsetzung des Gegenstandswerts beruht auf § 37 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 1 in Verbindung mit § 14 Abs. 1 Satz 1 RVG (vgl. BVerfGE 79, 365 <366 ff.>).

Kirchhof Masing Baer

Quelle: https://www.bundesverfassungsgericht.de/ (Bundesverfassungsgericht, 76131 Karlsruhe)
Leitsätze, Format und Rechtschreibung: http://www.debier.de (debier-datenbank, RA Torsten Mahncke, Berlin)