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db-nummer: bverfg-01BvR-2013-01585

Leitsätze (tm.)
1. Soweit es der publizistischen Medien bedarf, um die Beziehungen zwischen Künstler und Publikum herzustellen, sind auch die Personen durch die Kunstfreiheitsgarantie geschützt, die eine solche vermittelnde Tätigkeit ausüben.
2. Eine Grundrechtsverletzung durch eine gesetzliche Regelung kann nur festgestellt werden, wenn eine Grundrechtsposition gegenseitigen Interessen so untergeordnet wird, dass in Anbetracht seiner Bedeutung und Tragweite von einem angemessenen Ausgleich nicht mehr gesprochen werden kann.
3. Die Zivilgerichte haben bei der Auslegung und Anwendung des Urheberrechts konkurrierende Grundrechtspositionen nachzuvollziehen und unverhältnismässige Grundrechtsbeschränkungen zu vermeiden. Sind bei der Auslegung und Anwendung einfachrechtlicher Normen mehrere Deutungen möglich, so verdient diejenige den Vorzug, die die Grundrechte der Beteiligten möglichst weitgehend in praktischer Konkordanz zur Geltung bringt. Der Einfluss der Grundrechte auf die Auslegung und Anwendung zivilrechtlicher Normen erstreckt sich auf alle ihre auslegungsfähigen und -bedürftigen Tatbestandsmerkmale.
4. Ein prinzipieller Vorrang der Eigentumsgarantie vor der Gewährleistung der Kunstfreiheit lässt sich - wie auch umgekehrt ein prinzipieller Vorrang der Kunstfreiheit vor dem Eigentum - nicht aus der Verfassung herleiten.
5. Sampling zu tongestalterischen Zwecken ist von der Kunstfreiheit geschützt.
6. Die Kunstfreiheit ist durch den eigentumsrechtlichen Schutz des Tonträgerherstellerrechts beschränkt.
7. Die kunstspezifische Betrachtung verlangt allerdings, bei der Auslegung und Anwendung dieser Schranke die Übernahme fremder Werkausschnitte in eigene Werke als Mittel künstlerischen Ausdrucks und künstlerischer Gestaltung anzuerkennen.
8. Wird durch die Ausübung der Kunstfreiheit in Urheber- oder Tonträgerherstellerrechte eingegriffen, durch die Verwertungsmöglichkeiten nur geringfügig beschränkt werden, so können die Verwertungsinteressen der Rechteinhaber zugunsten der Freiheit der künstlerischen Auseinandersetzung zurückzutreten haben.
9. Das geistige Eigentum ordnet den Berechtigten nicht jede nur denkbare wirtschaftliche Verwertungsmöglichkeit zu.
10. Tritt ein Werk mit der Veröffentlichung bestimmungsgemäss in den gesellschaftlichen Raum, kann es zu einem das kulturelle und geistige Bild der Zeit mitbestimmenden Faktor und damit geistiges und kulturelles Allgemeingut werden, das sich mit der Zeit von der privatrechtlichen Verfügbarkeit löst. Hierin drückt sich die Sozialbindung des geistigen Eigentums aus.
11. Eine enge Auslegung der freien Benutzung von vorbestehender Musik durch Sampling dergestalt, dass diese nur zulässig sein soll bei einer Sample-Lizenzierung oder durch eigenes Nachspielen, schränkt die künstlerische Betätigungsfreiheit und damit auch die kulturelle Fortentwicklung ein. Denn auf die Einräumung einer Lizenz zur Übernahme des Sample besteht kein Anspruch; sie kann verweigert werden oder mit erheblichen Kosten verbunden sein. Und das eigene Nachspielen ist kein Ersatz des Sampling, da der Einsatz von Samples wesentliches Stilement eines experimentell synthetisierenden Musikschaffensprozesses, etwa im Bereich des Hip-Hop ist und teilweise nur mit einem erheblichen tatsächlichen Aufwand und rechtlichen Risiko möglich ist.
12. Dagegen soll das Tonträgerherstellerrecht nicht Einnahmen für die Lizenzierung von Übernahmen kleinster Ausschnitte aus den Tonträgern in andere Tonaufnahmen gewähren, sondern vor der wirtschaftlichen Gefährdung des Tonträgerherstellers durch Tonträgerpiraterie schützen. Auch die Kunstfreiheit unterstützt in ihrer Mittlerfunktion für die Tonträger nur insoweit deren Ansprüche, als die ökonomische Verwertung ihrer wirtschaftlichen Leistungen betroffen sind. Solange daher mit Sampling keine Gefahr von Absatzrückgängen verbunden ist, greift es nur geringfügig in das Tonträgerherstellerrecht und die Kunstfreiheit der Tonträgerhersteller ein.
13. Steht somit nur ein geringfügiger Eingriff in das Tonträgerherstellerrecht einer erheblichen Beeinträchtigung der künstlerischen Betätigungs- und Entfaltungsfreiheit gegenüber, haben die Verwertungsinteressen der Tonträgerhersteller gegenüber den Interessen an einer freien künstlerischen Betätigung zurückzutreten.
14. Innerstaatliche Rechtsvorschriften, die eine Richtlinie der Europäischen Union in deutsches Recht umsetzen, sind grundsätzlich nicht am Massstab der Grundrechte des Grundgesetzes, sondern am Unionsrecht und den durch dieses gewährleisteten Grundrechten zu messen, soweit die Richtlinie den Mitgliedstaaten keinen Umsetzungsspielraum überlässt, sondern zwingende Vorgaben macht.
15. Halten die Fachgerichte eine vollständige Bindung durch Unionsrecht ohne Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH für eindeutig, unterliegen diese Entscheidungen wegen der Bedeutung dieser Frage für die Anwendbarkeit der deutschen Grundrechte in vollem Umfang der Überprüfung durch das Bundesverfassungsgericht.
16. Im Anwendungsbereich der Urheberrechtsrichtlinie sind die Fachgerichte an die Grundrechte gebunden, soweit diese den Mitgliedstaaten Umsetzungsspielräume belässt.
17. Mit der Überprüfung der fachgerichtlichen Vorlagepraxis im Grundrechtsbereich füllt das Bundesverfassungsgericht seine Aufgabe bei der Sicherung der Grundrechte in Deutschland nicht nur gegenüber der deutschen, sondern auch der europäischen öffentlichen Gewalt aus.