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db-nummer: bverfg-01BvR-1971-00421

BVerfG, Urteil vom 29.05.1973 - 1 BvR 424/71 u. 325/72 -
Art. 3 Abs. 1, 5 Abs. 3, 33, 12 Abs. 1 GG
Niedersächsiches VorschaltG v. 26.10.1971 (GVBL 317)

Leitsätze (amtl)

1. Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG gewährleistet dem Wissenschaftler einen gegen Eingriffe des Staates geschützten Freiraum, der vor allem die auf wissenschaftlicher Eigengesetzlichkeit beruhenden Prozesse, Verhaltensweisen und Entscheidungen bei dem Auffinden von Erkenntnissen, ihrer Deutung und Weitergabe umfasst.
2. Art. 5 Abs. 3 GG ist zugleich eine das Verhältnis der Wissenschaft zum Staat regelnde wertentscheidende Grundsatznorm. Danach hat der Staat im Bereich des mit öffentlichen Mitteln eingerichteten und unterhaltenen Wissenschaftsbetriebs durch geeignete organisatorische Massnahmen dafür zu sorgen, dass das Grundrecht der freien wissenschaftlichen Betätigung soweit unangetastet bleibt, wie das unter Berücksichtigung der anderen legitimen Aufgaben der Wissenschaftseinrichtungen und der Grundrechte der verschiedenen Beteiligten möglich ist
3. Dem einzelnen Grundrechtsträger erwächst aus der Wertentscheidung des Art. 5 Abs. 3 GG ein Recht auf solche staatlichen Massnahmen auch organisatorischer Art, die zum Schutz seines grundrechtlich gesicherten Freiheitsraums unerlässlich sind, weil sie ihm freie wissenschaftliche Betätigung überhaupt erst ermöglichen.
4. Die Garantie der Wissenschaftsfreiheit hat weder das überlieferte Strukturmodell der deutschen Universität zur Grundlage, noch schreibt sie überhaupt eine bestimmte Organisationsform des Wissenschaftsbetriebs an den Hochschulen vor.
5. Das organisatorische System "der "Gruppenuniversität" ist als solches mit Art. 5 Abs. 3 GG vereinbar.
6. Wenn der Staat im Rahmen seiner Gestaltungsfreiheit die Organisation der Wissenschaftsverwaltung unter Berücksichtigung der verschiedenartigen Interessen und Funktionen der einzelnen Gruppen von Hochschulmitgliedern gestaltet, so muss er nach Art. 5 Abs. 3 in Verbindung mit Art. 3 Abs. 1 GG der herausgehobenen Stellung der Hoch schullehrer Rechnung tragen.
7. Organisationsnormen müssen den Hochschulangehörigen, insbesondere den Hochschullehrern, einen möglichst breiten Raum für freie wissenschaftliche Betätigung sichern; andererseits müssen sie die Funktionsfähigkeit der wissenschaftlichen Hochschule und ihrer Organe gewährleisten.
8. Soweit gruppenmässig zusammengesetzte Kollegialorgane über Angelegenheiten zu befinden haben, die Forschung und Lehre unmittelbar betreffen, müssen folgende Grundsätze beachtet werden:
a) Die Gruppe der Hochschullehrer muss homogen, d.h. nach Unterscheidungsmerkmalen zusammengesetzt sein, die sie gegen andere Gruppen eindeutig abgrenzen.
b) Bei Entscheidungen, welche unmittelbar die Lehre betreffen, muss der Gruppe der Hochschullehrer der ihrer besonderen Stellung entsprechende massgebende Einfluss verbleiben. Diesem Erfordernis wird genügt, wenn diese Gruppe über die Hälfte der Stimmen verfügt
c) Bei Entscheidungen, die unmittelbar Fragen der Forschung oder die Berufung der Hochschullehrer betreffen, muss der Gruppe der Hochschullehrer ein weitergehender, ausschlaggebender Einfluss vorbehalten bleiben.
d) Bei allen Entscheidungen über Fragen von Forschung und Lehre ist eine undifferenzierte Beteiligung der Gruppe der nichtwissenschaftlichen Bediensteten auszuschliessen.